Die Idee

"Für die Ungeduldigen" "Für die Tragenden" "Für die Ängstlichen"

Begegnungen

Die Wartenden gehen auf die Reise. Die Wartenden, das sind große, lebensgroße Holzskulpturen. Sitzende Figuren, die Abbilder sind und Symbole der Menschen, ihrer Gefühle, Erfahrungen, Denkfiguren. Sie gehen auf die Reise, in die Welt, auf öffentliche Plätze und Orte.

Dort verweilen sie, warten, treffen Menschen, erscheinen in deren Alltag, werden angetroffen. Und reisen weiter, von Ort zu Ort. Für einen Tag, eine Stunde, eine Woche trifft man die Wartenden auf dem Amt, dem Bahnhof, im Krankenhaus, beim Zahnarzt, auf dem Marktplatz, in einem Konzert, im Betrieb, im Kaufhaus, in der Bahn, in einer Ausstellung, in der Lobby des Rathauses.

Zumeist sind die Begegnungen flüchtig. Aber die Wartenden treffen auch Menschen, die mit ihnen gemeinsam warten. Oder gemeinsam auf die Reise gehen. Menschen, die Anteil nehmen und sich einbringen, die Verantwortung übernehmen, als Paten für eine einzelne Skulptur oder die ganze Reisegruppe. Solche Menschen bestimmen die Wegstrecken und Etappenziele.

conditio humana

„Im Warten erleben wir uns in der Zeit“, sagt Christina Rode. Die Bildhauerin aus Wietzow in Mecklenburg-Vorpommern hat die Figuren geschaffen. Meist geschieht das Warten in Stress, in Zeitnot, in Aufregung über das Erwartete. Gemeint ist hier aber ein anderes Warten: ein Warten, in dem die Zeit unwichtig wird. In dem wir uns öffnen für Begegnungen, für andere Menschen und Gedanken. Ein Warten, in dem sich die Türen der Wahrnehmung aufschließen und die Welt reicher wird, in anderem Licht erscheint und mit anderem Klang und Rhythmus. Wer lange wartet, anderen Menschen begegnet, in Beziehung tritt, berührt und sich berühren lässt, wird anderswo ankommen.

Dieses Anderswo interessiert Christina Rode. In der Begegnung mit den Wartenden erfahren sich die Menschen neu. Die Skulpturen werden zum Spiegel, in dem sich Menschen in ihrer Wesensart erleben, aber auch zum Zentrum neuer Impulse. Was zunächst nur flüchtige Begegnung ist, berührt im Innersten und deckt Schichten auf, die in der Flüchtigkeit der Alltagswelt verschüttet liegen. Die Begegnung fordert heraus, weckt auf und macht aufmerksam auf den eigenen Reichtum an Gefühlen und Erfahrungen. Und verweist zuletzt auf die Grundemotionen der Menschen jenseits aller kulturellen oder religiösen Prägungen, auf die conditio humana. Wir sind einander sehr ähnlich, wir Menschen.

Das zeigen die Wartenden dem, der sich auf sie einlässt. Da ist zum Beispiel die Angst, vielleicht vor dem nächsten Augenblick („Für die Ängstlichen“). Die Erschöpfung der kleinen Tänzerin auf dem zu hohen Stuhl („Für die Töchter“) und die Wut, wenn es zu eng wird („ Für die Söhne“). Da sind die sich hinwendende Hand und das liebende Gesicht („Für die Mütter“), sind Unruhe und Neugierde („ Für die Ungeduldigen“), die In-sich-Kehrung der Schwangeren („Für die Tragenden“) und die Spannung vor dem nächsten Schritt („Während in der wirren Glut des Gras Wächst“).






"Für die Töchter"












"Für die Söhne"
 
  


 






"Für die Mütter"

Die Reise

Die Wartenden reisen an öffentliche Orte. An Orte, wo andere Menschen in Erwartung sind. Dort bleiben sie, für eine Stunde, einen Tag, einen Monat. Das variiert von Ort zu Ort. Allen gemeinsam ist, dass die Skulpturen im Alltag der Menschen erscheinen und nicht im besonderem Raum von Galerien oder Museen. Ganz alltäglich sind sie einfach da.





Während in der wirren Glut das Gras wächst“
Kunst im öffentlichen Raum ist oft monumental oder mahnend. Die Wartenden dagegen sind leise und überraschend. Sie fordern die Menschen heraus, sich selbst aktiv einzubringen. Auch solche Menschen, die sich sonst kaum jemals mit Kunst auseinandersetzen würden.
 
An jedem Ort suchen die Wartenden Paten. Menschen aus allen Schichten und Gruppen, die bereit sind, sich für eine Etappe näher auf die Skulpturen einzulassen. Das bedeutet zunächst, sie mittels Sackkarre und öffentlichen Verkehrsmitteln zu bewegen. Das bedeutet aber auch, sich dabei selbst mit all seinen Eigenheiten, seinem Vermögen, seiner Kreativität und auch seinen Emotionen zu zeigen. Die Paten sind Kommunikatoren zwischen dem Kunstwerk, ihrer eigenen Sicht- und Lebensweise und den zufälligen Betrachtern.

Die gesamte Reise wird dokumentiert. Filmkameras und Fotoapparate sind immer zugegen. Nicht vordringlich oder vordergründig, aber auch nicht im Verborgenen. Bilder, Texte und Filme werden zeitnah auf einer eigenen Internetseite veröffentlicht. Die Wartenden reisen also auch im World Wide Web. Und jeder Mensch an jedem Ort kann sie begleiten, kommentieren und sich mit anderen über sie austauschen.

Die Künstlerin geht mit auf die Reise. Begleitende Ausstellungen und Aktionen zeigen die Skulpturen und jeweiligen Dokumentationen des Ortes. Bis das Projekt seine Eigendynamik entfaltet, werden Orte, Paten und Unterstützer aktiv gesucht

(Text: Dr. Volker Pesch)